Fachartikel

Diskriminierungsentschädigung wegen Nichtzahlung von Überstunden

Urteil des BAG v. 28.10.2021 (8 AZR 371/20)

Überstunden bieten immer wieder Anlass für Rechtsstreitigkeiten vor den Arbeitsgerichten. In jüngster Zeit hatte sich das BAG (Urteil vom 04.05.2022, 5 AZR 359/21) mit der Vergütung von Überstunden befasst und mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 2019 klargestellt, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Errichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems den Arbeitnehmer nicht von der Pflicht entbinde, bei einer Klage auf Vergütung von Überstunden darzulegen und zu beweisen, wann er diese geleistet und dass der Arbeitgeber sie angeordnet, geduldet habe oder sie zwingend erforderlich gewesen seien. 

In einer aktuellen Entscheidung hat sich das BAG nun mit der Frage befasst, ob die Nichtzahlung von Überstundenzuschlägen den Anspruch auf Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung gem. § 15 Abs.  2 AGG auslösen könne. Das BAG hat die Frage grundsätzlich bejaht.

Der Sachverhalt

Der Beklagte war ein bundesweit tätiger ambulanter Dialyseanbieter. Die Klägerin war für den Beklagten als Pflegekraft in Teilzeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die für den Beklagten geltenden tarifvertraglichen Regelungen Anwendung. Für die Klägerin wurde ein Arbeitszeitkonto geführt.

Im Monat Februar 2018 belief sich das Arbeitszeitguthaben der Klägerin auf ca. 226 Stunden. Hierbei handelte es sich um die von ihr über die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleisteten Stunden. Der Beklagte hatte der Klägerin für diese Stunden weder tarifliche Überstundenzuschläge gezahlt, noch hatte er im Arbeitszeitkonto, wie tariflich vorgesehen, der Klägerin die den Zuschlägen entsprechende Zeitgutschrift gewährt. 

Mit ihrer Klage hat die Klägerin den Beklagten u.a. auf Erteilung einer den Überstundenzuschlägen entsprechenden Zeitgutschrift in Anspruch genommen. Zudem hat sie vom Beklagten die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von drei Bruttomonatsverdiensten verlangt. Die Klägerin vertrat die Auffassung, der Beklagte habe sie dadurch, dass er weder Überstundenzuschläge an sie gezahlt noch eine entsprechende Zeitgutschrift in ihrem Arbeitszeitkonto vorgenommen habe, unzulässig als Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten benachteiligt.

Zugleich sei sie als Teilzeitbeschäftigte mittelbar wegen des Geschlechts benachteiligt worden, denn im Betrieb seien überwiegend Frauen in Teilzeit beschäftigt. Deshalb stehe ihr zusätzlich die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu. 

Die Entscheidung

Das Arbeitsgericht hatte die Klage insgesamt abgewiesen. Das Hessische Landesarbeitsgericht sprach der Klägerin hingegen weitere zusätzliche Zeitstunden zu, lehnte eine Entschädigung wegen vermeintlicher Unangemessenheit aber ab. 

Nach Einlegung der Revision schlossen die Parteien einen Aufhebungsvertrag, mit dem u.a. sämtliche wechselseitigen Ansprüche der Parteien aus dem Arbeitsverhältnis und dessen Beendigung, gleich aus welchem Rechtsgrund, gleich ob bekannt oder unbekannt, abgegolten und erledigt wurden. Dennoch verfolgte die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch vor dem BAG weiter. 

Das BAG wies die Revision mit Verweis auf den Aufhebungsvertrag, der einen Verzicht auf alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis enthalte, zurück.  

Im Übrigen setzte es sich wie folgt kritisch mit der Rechtsprechung des LAG auseinander: 

  • Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 AGG sei der Arbeitgeber bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot verpflichtet, den hierdurch entstandenen Vermögensschaden zu ersetzen. 
  • Nach § 15 Abs. 2 S. 1 AGG könne der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden sei, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen.

Dabei habe die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG eine Doppelfunktion: Sie diene einerseits der vollen Kompensation des immateriellen Schadens und andererseits der Prävention. 

Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG müsse einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte gewährleisten. Die Härte der Sanktion müsse der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckend Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleiste und in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden des Arbeitnehmers stehe. Danach komme das Absehen von einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG bzw. die Festsetzung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG auf „Null“ nicht in Betracht. 

Das Landesarbeitsgericht sei zudem zu Unrecht davon ausgegangen, bei seiner Entscheidung über die Höhe der Entschädigung zulasten der Klägerin und zu Gunsten des Beklagten berücksichtigen zu dürfen, dass es den Beklagten verurteilt habe, im Arbeitszeitkonto der Klägerin weitere Stunden gutzuschreiben. Insoweit habe das Landesarbeitsgericht rechtsirrig angenommen, ein immaterieller Schaden könne durch einen materiellen Schadensersatz (teilweise) ausgeglichen werden. 

Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den immateriellen Schaden auszugleichen, trete als selbstständige Verpflichtung neben seine Pflicht zum materiellen Schadensersatz. Nach der Konzeption des AGG erfahre die benachteiligte Person allein durch den Ersatz des materiellen Schadens keine Genugtuung im Hinblick auf die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts. 

Das Landesarbeitsgericht habe bei der Bemessung der Entschädigung weiterhin rechtsfehlerhaft angenommen, einen geringen Grad des Verschuldens auf Seiten des Arbeitgebers zu dessen Gunsten berücksichtigen zu dürfen. Denn die Haftung nach § 15 Abs. 2 AGG sei verschuldensunabhängig. 

Unsere Einschätzung

Für die Praxis sind die Ausführungen des BAG zur Doppelfunktion und Verschuldensunabhängigkeit des Entschädigungsanspruchs nach § 15 AGG von erheblicher Bedeutung.

 

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