Recht auf Unerreichbarkeit in der Freizeit | Urteilsbesprechung

Notfallsanitäter klagt gegen Arbeitgeber

Einordnung

Das BAG hob in seinem Urteil vom 23.08.2023 ein von vielen Autoren beachtetes Berufungsurteil des LAG Schleswig-Holstein vom 27.09.2022 (1 Sa 39 öD/22) auf. Das LAG hatte entschieden, ein Arbeitnehmer müsse in seiner Freizeit keine dienstliche SMS lesen. Es „gehöre zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht“.

„Ist dem Arbeitnehmer auf der Grundlage der betrieblichen Regelungen bekannt, dass der Arbeitgeber die Arbeitsleistung für den darauffolgenden Tag in Bezug auf Uhrzeit und Ort konkretisieren wird, ist er verpflichtet, eine solche, per SMS mitgeteilte Weisung auch in seiner Freizeit zur Kenntnis zu nehmen“.

BAG vom 23.08.2023

Der Sachverhalt

Dem Fall lag die Klage eines Notfallsanitäters gegen seinen Arbeitgeber, den Betreiber eines Rettungsdienstes, auf Gutschrift von Arbeitsstunden auf seinem Arbeitszeitkonto und Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte zu Grunde. In einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit war geregelt, dass angeordnete „Springerdienste“ bis um 20:00 Uhr des Vortages in Bezug auf die zeitliche Lage des Dienstes weiter konkretisiert werden könnten. Ohne derartige Arbeitsanweisungen bestand die Pflicht für den Mitarbeiter, sich „zu Dienstbeginn an vom Arbeitgeber zugewiesenen Dienstort“ einzufinden.

Im Dienstplan 2021 war für den Kläger seit dem 4. April 2021 ein sog. unkonkreter Springerdienst für den 8. April 2021 eingetragen. „Unkonkret“ bedeutete dabei, dass eine konkrete Schichtzuteilung noch nicht möglich war. Am 6. April 2021 endete der Dienst des Klägers um 19:00 Uhr. Am 7. April 2021 war er von der Arbeitsleistung befreit. An diesem Tag teilte ihm die Beklagte um 13:20 Uhr für einen Dienst am 8. April 2021 in der Tagschicht, Beginn 6:00 Uhr, ein. 

Die Beklagte versuchte vergeblich, den Kläger telefonisch hierüber zu informieren. Mittags übersandte sie dem Kläger eine SMS mit der Information über den zugeteilten Dienst. Am 8. April 2021 zeigte der Kläger um 7:30 Uhr telefonisch seine übliche Arbeitsbereitschaft an. Die Beklagte setzte ihn an diesem Tag nicht mehr ein, nachdem sie zwischenzeitlich einen anderen Mitarbeiter herangezogen hatte. Sie ermahnte den Kläger, bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog vom Arbeitszeitkonto 11 Stunden ab.

Der Kläger war der Auffassung, zur Übernahme der Dienste nicht verpflichtet gewesen zu sein. Er sei nicht verpflichtet, sich während seiner Freizeit über die Dienstzuteilung zu informieren.

Das BAG-Urteil

Tatsächliches Angebot der Arbeitsleistung nach § 294 BGB

Der Kläger habe die am 8. April 2021 geschuldete Arbeitsleistung nicht, wie § 294 BGB vorsieht, tatsächlich am rechten Ort, zur rechten Zeit und in der rechten Art und Weise angeboten. Erforderlich sei das Angebot der Arbeitsleistung auf der zugeteilten Wache um 6:00 Uhr gewesen, weil die Beklagte den Dienst des Klägers gemäß der Betriebsvereinbarung wirksam dahingehend konkretisiert und ihm eine entsprechende Weisung erteilt habe.

Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, von der wirksamen Konkretisierung des Dienstes keine Kenntnis gehabt zu haben. Er sei verpflichtet gewesen, die Weisung in Bezug auf den zugeteilten Dienst für den 8. April 2021 zur Kenntnis zu nehmen. Es handele sich um eine mit der Arbeitspflicht in unmittelbaren Zusammenhang stehende Nebenleistungspflicht, der der Kläger auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit als Notfallsanitäter nachzukommen habe.

Pflichten aus dem Schuldverhältnis nach § 241 (2) BGB

Nach § 241 Abs. 2 BGB sei jede Partei zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet. Dazu gehöre auch die Pflicht, im Zusammenwirken mit dem anderen Teil die Voraussetzungen für die Vertragserfüllung zu schaffen. Im vorliegenden Fall habe der unkonkret zugeteilte Springerdienst für den Tag- und Spätdienst noch bis 20:00 Uhr des Vortrages vor Dienstbeginn im Dienstplan weiter konkretisiert werden können. Dies beinhalte zugleich, dass der jeweils betroffene Arbeitnehmer bis zu diesem Zeitpunkt damit rechnen musste, für den folgenden Dienstbeginn eine konkretisierende Weisung zu erhalten. Daraus folge die Pflicht, Mitteilungen von Seiten der Beklagten zur Kenntnis zu nehmen.

Der Kläger habe entgegen seiner Auffassung im Rahmen der geschuldeten Mitwirkungspflicht nicht ununterbrochen für die Beklagte erreichbar sein müssen. Es blieb ihm überlassen, wann und wo er von der SMS Kenntnis nahm, mit der ihn die Beklagte über die Konkretisierung seines Springerdienstes informierte. 

Der Kläger war keineswegs verpflichtet, den gesamten Tag auf sein Mobiltelefon zu schauen und sich dienstbereit zu halten. Da die Beklagte die Konkretisierung des Dienstbeginns und Dienstortes bis 20:00 Uhr vornehmen konnte, war es ausreichend, dass er sich ab dieser Zeit informierte. Der Kläger sei auch nicht verpflichtet gewesen, mit der Beklagten in aktive Kommunikation zu treten. Er habe lediglich die Nachricht der Beklagten über die Zuteilung eines bestimmten Dienstes für den folgenden Tag zur Kenntnis zu nehmen gehabt. 

Die Erfüllung dieser leistungssichernden Nebenpflicht führe nicht zu einer Kollision mit den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes und der Richtlinie 2003/88/EG. Bei der Kenntnisnahme der Weisung zum konkretisierten Dienst handele es sich auch nicht um Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtrechtlichen Sinne.

Unser Fazit

Das Urteil des BAG stärkt das Recht des Arbeitgebers, die Arbeitszeit flexibel zu organisieren. Dem Interesse des Arbeitnehmers auf absolute Ungestörtheit seiner Freizeit („Recht auf Unerreichbarkeit“) wird mit Blick auf die gesetzliche Rücksichtnahmepflicht (§ 241 BGB) eine Absage erteilt. Umgekehrt setzt das BAG der Erwartungshaltung, wonach Beschäftigte in der Freizeit oder im Urlaub mit dem Unternehmen zu kommunizieren, z B. Dienstpläne abzurufen haben, eine Grenze. Hat ein Arbeitnehmer allerdings von einer Dienstplanänderung Kenntnis genommen, ist er daran gebunden und muss sich daran halten.

Weiterführende Links

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