Sozialauswahl: Auch bei teilweiser Betriebsstilllegung?

Greift die Sozialauswahl beim Restbetrieb?

Rechtlicher Rahmen

Nach § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB gehen bei einem Betriebsübergang oder Betriebsteilübergang die Arbeitsverhältnisse auf den Betriebserwerber über. Dieser tritt kraft Gesetzes in die mit dem bisherigen Inhaber bestehenden Arbeitsverhältnisse ein.

Entsprechend den Vorgaben des EuGH versteht die Rechtsprechung unter einem Betrieb die „wirtschaftliche Einheit“. Die Wahrung der Identität der von dem Übergang betroffenen wirtschaftlichen Einheit ist Voraussetzung für den Betriebsübergang. Wird der Betrieb vom Erwerber nicht im Wesentlichen unverändert fortgeführt und folglich nicht die Identität der wirtschaftlichen Einheit gewahrt, liegt nach der Rechtsprechung des BAG kein Betriebsübergang vor.

Geht nur einer von mehreren Betrieben oder lediglich ein Betriebsteil auf einen neuen Betriebsinhaber über und wird der Restbetrieb stillgelegt, stellt sich die Frage der Zuordnung. Denn das Arbeitsverhältnis geht nach § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB nur über, wenn der Arbeitnehmer der übergehenden Einheit zum Zeitpunkt des Übergangs auf den Erwerber zugeordnet ist.

Mit der Frage, wie diese Zuordnung erfolgt, hatte sich das BAG in seiner Entscheidung vom 11.05.2023 zu befassen.

Der Sachverhalt

Die klagende Arbeitnehmerin war bei Air Berlin als Flugbegleiterin beschäftigt. Der Flugbetrieb wurde zum 31.12.2017 eingestellt. Gegenstand ihrer Klage war die Wiederholungskündigung des Insolvenzverwalters vom 27.8.2020. Die Klägerin machte einen Teilbetriebsübergang auf die Luftfahrtgesellschaft Walter mbH (LGW) geltend und berief sich auf das Kündigungsverbot des § 613 a Abs. 4 BGB. 

Der Insolvenzverwalter habe im Rahmen einer sozialen Auswahl entscheiden müssen, welche Arbeitnehmer der LGW zuzuordnen gewesen seien. Gemessen an ihren sozialen Daten habe sie der LGW im Wege der Zuordnung angehört, ihr Arbeitsverhältnis sei deshalb auf die LGW übergegangen.

Das Urteil

Das BAG machte sich – wie bereits die Vorinstanzen – diese Auffassung nicht zu eigen. Die Kündigung scheitere nicht an einer fehlerhaften Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG. Infolge der Betriebsstilllegung würden keine Flugbegleiterinnen mehr beschäftigt, so dass sich eine Sozialauswahl erübrige.

Die Beklagte sei auch nicht gehalten gewesen, unter Anwendung der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG enthaltenen Grundsätze der sozialen Auswahl diejenigen Beschäftigten zu bestimmen, die dem LGW zuzuordnen seien. Eine übergangsfähige wirtschaftliche Einheit könne nicht dadurch geschaffen werden, dass die mangelnde „Zuordbarkeit“ durch eine betriebsbezogene Sozialauswahl ersetzt werde. 

§ 613 a BGB sei – anders als § 1 Abs. 3 KSchG – kein Sozialschutz, der sicherstellen solle, dass die Kündigung gegenüber dem Arbeitnehmer erfolge, den sie am wenigsten belaste. Sowohl die Richtlinie 2001/23 EG als auch § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB wollen nur die Kontinuität der einer wirtschaftlichen Einheit bereits zugeordneten Arbeitsverhältnisse gewährleisten.

Darum können die bei einem Betriebsteilübergang auf den Erwerber übergehenden Arbeitnehmer nicht nach den Grundsätzen der Sozialauswahl, die unter allen Arbeitnehmern des bisherigen Betriebes durchzuführen wäre, ermittelt werden.

Unser Fazit

Für die Frage, ob eine übergangsfähige wirtschaftliche Einheit besteht, an die sich der Fortbestand von Arbeitsverhältnissen knüpft, sind die kündigungsrechtlichen Maßstäbe der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG unerheblich. Maßgeblich ist allein die im Betrieb des veräußernden Arbeitgebers bestehende Organisation.

Quelle

  • Urteil des BAG v. 11.05.2023 (6AZR 267/22)

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