Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Erneutes LAG-Urteil zum Beweiswert der AU

Einordnung

Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist ein ständiges Streitthema vor den Arbeitsgerichten. Zuletzt gab uns das LAG Schleswig-Holstein mit seinem Urteil vom 02.05.2023 Veranlassung, auf diese Problematik hinzuweisen. In jenem Urteil ging es um die Fragwürdigkeit einer passgenauen Krankschreibung für die Dauer der Kündigungsfrist

Das aktuelle Urteil des LAG Mecklenburg-Vorpommern befasst sich nun mit der Frage, ob eine zu Beginn der Erkrankung angetretene zehnstündige Bahnfahrt eines als Chefarzt beschäftigten Arbeitnehmers zum Familienwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert.

Der Sachverhalt

Der Kläger hatte das Arbeitsverhältnis mit mehrmonatiger Frist gekündigt. Er unterhielt eine Zweitwohnung in der Nähe seiner Arbeitsstätte. Sein Familienwohnsitz befand sich annähernd 1.000 km entfernt in Süddeutschland. Zwei Wochen vor Beginn seines Resturlaubs und anschließendem Jobwechsel erkrankte er. 

Die behandelnde Hausärztin stellte dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zweiwochen-Zeitraum aus. Die Arbeitgeberin bezweifelte deren Richtigkeit und verweigerte die Zahlung des Gehalts für die Dauer der attestierten Arbeitsunfähigkeit. Die zehnstündige Bahnfahrt und der Umstand, dass das Attest bis zum Beginn des Resturlaubs vor dem Jobwechsel ausgestellt worden sei, sprächen gegen die Glaubwürdigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Das LAG Mecklenburg-Vorpommern folgte der Argumentation der Arbeitgeberin nicht, welche die Glaubwürdigkeit der AU-Bescheinigung anzweifelte.

Das Urteil

LAG Mecklenburg-Vorpommern orientierte sich an folgendem Maßstab

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers belastbare Tatsachen vorhanden seien, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen. Nach der geschuldeten Arbeitsleistung bestimme sich, ob ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig sei oder nicht. 

Die zu erbringenden Arbeitsaufgaben bildeten den Maßstab dafür, ob bestimmte Aktivitäten des Arbeitnehmers Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wecken würden, also darauf hindeuten, dass er tatsächlich arbeitsfähig sei.

Erbrächten Arbeitnehmer anderweitige Tätigkeiten, die sie ebenso gut bei dem eigenen Arbeitgeber ausführen könnten, könnte sich daraus ein Anzeichen für eine tatsächlich vorhandene Leistungsfähigkeit ergeben. Auch sportliche Aktivitäten könnten je nach Arbeitsaufgabe eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung infrage stellen.

Zweifel könnten sich zudem aus zeitlichen Zusammenhängen ergeben. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei regelmäßig erschüttert, wenn sich ein Arbeitnehmer nach Erhalt einer arbeitgeberseitigen Kündigung postwendend krankmelden oder zeitgleich mit seiner Kündigung eine Bescheinigung einreichen würde, die passgenau die noch verbleibende Dauer der Arbeit des Arbeitsverhältnisses abdecke.

Die Entscheidung

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist, betreffe. Krankheiten könnten auch in einem gekündigten oder in einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase möge zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus sei aber keinesfalls zu schließen, dass ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum makelbehaftet sei.

Die rund zehnstündige Bahnreise des Klägers wecke unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung keine schlüssigen Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die Belastung durch die Bahnreise sei nicht annähernd mit einer Chefarzttätigkeit vergleichbar. Eine Bahnreise erfordere weder entsprechende Konzentration noch körperliche Anstrengungen.

Auch stelle die Erstreckung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum Beginn des Urlaubs deren Richtigkeit nicht infrage. Dem Kläger sei es nicht verwehrt, seinen Urlaub für die eventuell notwendige weitere Genesung zu nutzen, anstatt sich auf § 9 BUrlG zu berufen, wonach nachgewiesene Arbeitsunfähigkeitstage auf den Jahresurlaub nicht anzurechnen seien.

Unser Fazit

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist hoch. Er lässt sich aber unter bestimmten Voraussetzungen durch den Arbeitgeber erschüttern, am einfachsten durch Verweis auf anerkannte Fallgruppen.

Nach § 275 Abs. 1 a SGB V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere in Fällen anzunehmen, wenn

  • Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche falle oder
  • die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.

Eine Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung hat das BAG für den Fall anerkannt, dass ein Beschäftigter sein Arbeitsverhältnis kündigt, am Tage der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben wird und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit passgenau die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit umfasst.

Diese Beispiele sind nicht abschließend zu verstehen. Weitere Fälle der Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sind denkbar, sofern der Arbeitgeber sein Misstrauen mit konkreten, objektiv Verdacht erregenden Tatsachen schlüssig dargelegt.

Quelle

  • Urteil des LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 13.07.2023 (5 Sa 1/23)

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