Bundesarbeitsgericht vom 19.02.2025, Aktenzeichen 10 AZR 57/24

Verspätete Zielvorgabe führt zu Schadensersatz?

Wie viel Einfluss hat eine verspätete Zielvorgabe auf die variable Vergütung? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Rechtsstreits vor dem BAG (10 AZR 57/24). Zuvor hatte das LAG Köln bereits zugunsten des Arbeitnehmers entschieden (4 Sa 390/23).

Die Ausgangsfrage: Kann ein Arbeitnehmer Schadensersatz verlangen, wenn wesentliche Ziele zu spät oder gar nicht mitgeteilt werden?

Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht, Christian Wieneke-Spohler.

Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt
Christian Wieneke-Spohler

Datum

19.02.2025

Aktenzeichen

10 AZR 57/24

Gericht

Bundesarbeitsgericht

Einordnung

Zielvorgaben, die durch die Arbeitgeber einseitig im Rahmen ihres Leistungsbestimmungsrechts nach § 315 Absatz 1 BGB gesetzt werden, unterliegen besonderen Anforderungen. Sie müssen nach billigem Ermessen erfolgen und rechtzeitig festgelegt werden, damit sie ihre Anreiz- und Steuerungsfunktion erfüllen können.

Ein Verstoß hiergegen kann zu Schadensersatzansprüchen nach den § 280 Absatz 1 und Absatz 3, 283 Satz 1 sowie 252 BGB führen, wenn die Zielvorgabe unmöglich wird, etwa weil ein Großteil der Zielperiode bereits verstrichen ist.

In solchen Fällen kommt weder eine nachträgliche Zielvorgabe durch die Arbeitgeber noch eine Ersatzleistungsbestimmung durch das Gericht in Betracht.

Der Anspruch auf Schadensersatz umfasst dann den entgangenen Gewinn in Form nicht erhaltener variabler Vergütung, wobei der klagenden Partei Erleichterungen bei der Darlegung und dem Nachweis nach § 252 des BGB in Verbindung mit § 287 der Zivilprozessordnung zugutekommen.

Eine Zielvorgabe kann ihre Motivations-, Anreiz- und Steuerungsfunktion nur erfüllen, wenn sie zu Beginn der Zielperiode erfolgt – nicht Monate später.

Der Sachverhalt

Vorgeschichte

Der Arbeitnehmer war seit Juli 2016 bei der beklagten Partei als „Head of Advertising“ mit Führungsverantwortung beschäftigt. Im Arbeitsvertrag war eine jährliche Zielvergütung in Höhe von 102.125 EUR vereinbart, davon ein variabler Anteil in Höhe von rund 30.637 EUR, der bei 100 Prozent Zielerreichung vollständig zur Auszahlung gelangen sollte.

Die variable Vergütung setzte sich aus Unternehmenszielen (70 Prozent) und individuellen Zielen (30 Prozent) zusammen, wobei letztere regelmäßig im Dialog zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer festzulegen waren.

Diese Rahmenbedingungen wurden durch eine im März 2019 geschlossene Betriebsvereinbarung für alle Führungskräfte am Standort K konkretisiert. Sie sah vor, dass die Zielvorgabe für jedes Kalenderjahr spätestens bis zum 1. März erfolgen musste. Die Vorgaben sollten realistisch und erreichbar sein. Verspätete oder unterlassene Zielvorgaben konnten bei späterer Zielerreichung nicht einfach durch Pauschalierungen ersetzt werden – eine tatsächliche und konkrete Zieldefinition blieb zwingend.

Für das Jahr 2019 jedoch kam es zu gravierenden Verzögerungen: Weder wurden dem Kläger bis zum 1. März noch im weiteren Verlauf des Frühjahrs oder Sommers individuelle Ziele mitgeteilt.

Ob eine Präsentation im März 2019 und ein Heads-Meeting im April 2019 tatsächlich die relevanten Unternehmensziele enthielten, blieb zwischen den Parteien streitig. Selbst wenn dort Eckdaten erwähnt wurden, fehlte eine an die klagende Partei konkret gerichtete Zielvorgabe im Sinne einer verbindlichen Leistungsbestimmung.

Eine solche erfolgte unstreitig erst Mitte Oktober 2019 – also zu einem Zeitpunkt, als etwa drei Viertel des Geschäftsjahres bereits vergangen waren.

Zudem verzichtete der Arbeitgeber vollständig auf die Festlegung individueller Ziele. Stattdessen teilte die beklagte Partei Ende September 2019 allen Führungskräften pauschal mit, dass für das Jahr 2019 ein individueller Zielerreichungswert von 142 Prozent angenommen werde – ein Durchschnittswert aus den Vorjahren.

Kündigung durch den Arbeitnehmer

Der Arbeitnehmer kündigte im November 2019 das Arbeitsverhältnis zum Monatsende. Kurz vor dem Ausscheiden überreichte der Arbeitgeber eine sogenannte Management-by-Objectives-Karte mit Unternehmenszielen und deren Gewichtung.

Auch hier fehlten individuelle Ziele. Auf dieser Basis zahlte die beklagte Partei eine reduzierte variable Vergütung von 15.586,55 EUR aus. Sie legte dabei eine unterdurchschnittliche Erreichung der Unternehmensziele (37 Prozent) sowie die pauschalen 142 Prozent für die nicht konkret vereinbarten individuellen Ziele zugrunde.

Die klagende Partei sah hierin einen Vertragsverstoß. Die verspätete Festlegung der Unternehmensziele und die gänzlich unterbliebene Definition der individuellen Ziele entwerteten das Management-by-Objectives-System in seiner Grundstruktur – insbesondere dessen Anreiz- und Steuerungsfunktion.

Argumente der Parteien

Argumentiert wurde, bei rechtzeitiger Zielvorgabe wäre eine Zielerreichung von 100 Prozent bei den Unternehmenszielen und 142 Prozent bei den individuellen Ziele erzielt worden. Daraus ergab sich nach Berechnung der klagenden Partei ein Anspruch auf eine höhere variable Vergütung, von dem die bereits gezahlten 15.586,55 EUR abgesetzt wurden und ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 16.035,94 EUR geltend gemacht wurde.

Der Arbeitgeber wies dies zurück. Es wurde darauf verwiesen, die Ziele seien ausreichend kommuniziert worden. Selbst bei späterer Zielvorgabe hätte die klagende Partei diese nicht besser erfüllen können, da die Einflussmöglichkeiten auf das Unternehmensergebnis gering gewesen seien.

Zudem wurde bezweifelt, dass überhaupt ein kausaler Schaden entstanden sei, da das tatsächliche Unternehmensergebnis schwach ausgefallen sei und die Zielerreichung bei 0 Prozent gelegen habe.

Eine nachträgliche richterliche Leistungsbestimmung sei weiterhin möglich und Schadensersatz nicht gerechtfertigt.

Urteile der Vorinstanzen

Nach dem Arbeitsgericht wies auch das Landesarbeitsgericht Köln diese Argumentation zurück und gab der Klage statt. Die beklagte Partei legte daraufhin Revision beim Bundesarbeitsgericht ein.

Das BAG-Urteil

Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision des Arbeitgebers zurück und bestätigte die Entscheidung des LAG Köln. Die verspätete Zielvorgabe stelle eine schuldhafte Pflichtverletzung dar.

Insbesondere sei es der beklagten Partei nicht mehr möglich gewesen, Ziele mit hinreichender Anreizfunktion festzulegen, da ein wesentlicher Teil der Zielperiode bereits abgelaufen war. Die beklagte Partei habe zudem keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür geliefert, dass die klagende Partei die Unternehmensziele nicht erreicht hätte.

Das Gericht legte einen Zielerreichungsgrad von 112,6 Prozent zugrunde, basierend auf realistischen Annahmen über die Leistungsfähigkeit der klagenden Partei in den Vorjahren. Der daraus resultierende Schaden in Höhe von 16.035,94 EUR wurde als Schadensersatz zugesprochen.

Die Möglichkeit der nachträglichen gerichtlichen Leistungsbestimmung nach § 315 Absatz 3 BGB sah das Gericht aufgrund der verspäteten und unvollständigen Zielvorgabe als ausgeschlossen an.

Verletzt der Arbeitgeber seine Pflicht zur rechtzeitigen Zielvorgabe, haftet er auf Schadensersatz – selbst wenn die Zielerreichung hypothetisch wäre.

Unser Fazit

Das Urteil stärkt die Rechte von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit variablen Vergütungssystemen.

Arbeitgeber sind verpflichtet, rechtzeitig und transparent Ziele zu formulieren, wenn diese Grundlage einer variablen Vergütung sind. Eine verspätete oder fehlende Zielvorgabe kann zur Unmöglichkeit der Leistungsbestimmung führen – mit der Folge, dass der Arbeitnehmer einen vollwertigen Schadensersatzanspruch geltend machen kann.

Besonders relevant ist das Urteil für Arbeitgeber mit standardisierten Management-by-Objectives-Systemen sowie für Betriebsräte, die bei der Gestaltung solcher Systeme mitverhandeln.

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Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
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Portraitfoto von Kai Höppner, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg
Kai Höppner
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