Landesarbeitsgericht Niedersachsen vom 09.12.2024, Aktenzeichen: 4 SLa 52/24

Überstunden-Vergütung und Darlegungspflichten

Am 9. Dezember 2024 entschied das LAG Niedersachsen (Az.: 4 SLa 52/24) in zweiter Instanz über den Anspruch einer langjährigen Lageristin auf Vergütung von Überstunden. Das Arbeitsgericht Oldenburg hatte die Klage zuvor bereits abgewiesen (Az.: 6 Ca 120/23).

Nun stellte das LAG Niedersachsen klar, unter welchen Voraussetzungen Beschäftigte ihre Überstunden hinreichend darlegen müssen und in welchem Umfang Arbeitgeber diese zu vergüten haben.

Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Arbeitsrecht-Fachanwalt aus Hamburg, Christian Wieneke-Spohler.

Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt
Christian Wieneke-Spohler

Datum

09.12.2024

Aktenzeichen

4 SLa 52/24

Gericht

LAG Niedersachsen

Einordnung

Ein Anspruch auf Überstundenvergütung setzt voraus, dass Beschäftigte Arbeit über die vertraglich vereinbarte Normalarbeitszeit hinaus geleistet haben und der Arbeitgeber diese Überstunden angeordnet, gebilligt oder geduldet hat (vgl. § 611a Abs. 2 BGB; BAG 5 AZR 474/21).

Die Darlegungs- und Beweislast liegt dabei grundsätzlich bei den Beschäftigten (BAG 5 AZR 474/21, Rn. 22 ff.).
Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sind Arbeitgeber verpflichtet, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen, das Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit – einschließlich Überstunden – dokumentiert.

Diese Aufzeichnungspflicht ermöglicht es Arbeitgebern, den Vortrag der Beschäftigten zu den geleisteten Stunden substantiiert zu widerlegen. Das Weisungsrecht der Arbeitgeber nach § 106 GewO umfasst die Bestimmung der Lage der Arbeitszeit.

Im Zivilprozess gilt gemäß § 286 Abs. 1 ZPO das Prinzip der freien Beweiswürdigung, und nach § 138 Abs. 3 ZPO gelten nicht widerlegte Behauptungen als zugestanden. Für Zinsansprüche sind § 280 Abs. 2, § 286 Abs. 2 Nr. 1 und § 288 Abs. 1 BGB maßgeblich.

Die Beurteilung des Tatsachenvortrags als glaubhaft kann nicht ohne Berücksichtigung des Beklagtenvorbringens erfolgen. Erst wenn die Behauptungen der Parteien divergieren, ist es Aufgabe der Tatsachengerichte, sich … eine Überzeugung zu bilden.

Der Sachverhalt

Die Klägerin war von April 2012 bis August 2023 als Lageristin und kaufmännische Angestellte bei einer Kfz-Werkstatt beschäftigt.

Ihr Arbeitsvertrag sah eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 24 Stunden vor, vergütet mit 1.600 € brutto monatlich.

Nach dem Ausscheiden einer weiteren Bürokraft im Jahr 2019 übernahm sie umfassende Tätigkeiten, darunter Telefonannahme, Terminvergabe, Kundenbetreuung sowie Rechnungs- und Datenbearbeitung während der Öffnungszeiten von montags bis freitags sowie auf Abruf samstags.

Eine elektronische Zeiterfassung bestand nicht.

Ab November 2022 war die Klägerin krankgeschrieben, das Arbeitsverhältnis endete mit Kündigung im August 2023. Vor dem Arbeitsgericht legte sie Tabellen vor, aus denen sich ergab, dass sie montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr (mit einer Stunde Pause) und an einzelnen Samstagen von 9 bis 12 Uhr gearbeitet habe.

Das Arbeitsgericht Oldenburg wies die Klage ab, da der Vortrag als unglaubhaft und nicht ausreichend substantiiert bewertet wurde. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung ein und machte einen Überstundenvergütungsanspruch in Höhe von über 50.000 € brutto geltend.

Das Urteil

Das LAG Niedersachsen gab der Klägerin überwiegend recht und verurteilte die Beklagte zur Zahlung von 46.531,42 € brutto zuzüglich Zinsen seit dem 1. März 2023. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Die Kammer stellte fest, dass der Vortrag der Klägerin zu ihren Kalendereintragungen (montags–freitags 8–18 Uhr, samstags 9–12 Uhr) die Darlegungslast erfüllte. Die Annahme des Arbeitsgerichts, der Vortrag sei unglaubhaft, wurde zurückgewiesen, da das Gericht das Vorbringen nicht unter Berücksichtigung des Vortrags der Beklagten gemessen habe (§ 286 Abs. 1 ZPO).

Da die Beklagte keine eigenen, datumsgenauen Aufzeichnungen oder einen substantiierten Gegenvortrag erbracht hatte, galten die von der Klägerin vorgetragenen Arbeitsstunden als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).

Hinsichtlich der Veranlassung von Überstunden sah das LAG eine konkludente Anordnung in den Betriebsöffnungszeiten von montags bis donnerstags 8–18 Uhr und freitags 8–17 Uhr (44 Stunden wöchentlich) als gegeben an.

Darüber hinausgehende Stunden am Freitagabend und samstags wurden zwar geltend gemacht, jedoch nicht ausreichend taggenau vorgetragen.

Die Erfassungspflicht der Arbeitgeberin nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG hätte es der Beklagten ermöglicht, dem Vortrag der Klägerin entgegenzutreten; dies wurde jedoch unterlassen.

Die Berechnung ergab für den Zeitraum Februar 2020 bis Dezember 2022 insgesamt 3.025,45 zu vergütende Stunden zu je 15,38 € brutto. Die vertragliche Ausschlussklausel (Ziffer 7) wurde wegen Verstoßes gegen § 202 Abs. 1 BGB für nichtig erklärt (§§ 134, 306 Abs. 1 BGB).

Die Kosten wurden anteilig verteilt und die Revision zugelassen.

§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG beinhaltet bei einem unionsrechtskonformen Verständnis auch die grundsätzliche Verpflichtung der Arbeitgeberin, ein System zur Erfassung der Überstunden einzuführen.

Unser Fazit

Das Urteil unterstreicht die Bedeutung eines schlüssigen und plausiblen Vortrags der Beschäftigten zur geleisteten Mehrarbeit.

Zugleich wird deutlich, dass Arbeitgeber ihre Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht nur zum Schutz der Arbeitssicherheit, sondern auch zur Verteidigung gegen Vergütungsforderungen sorgfältig wahrnehmen sollten.

Insbesondere kleinere Unternehmen, die bislang auf eine strukturierte Zeiterfassung verzichtet haben, müssen berücksichtigen, dass ein fehlendes System nicht vor einer Zahlungspflicht schützt, sondern im Prozess tendenziell den Beschäftigten zugutekommt.

Zu beachten ist aber, dass die Revision zum BAG zugelassen wurde und das Urteil des LAG Niedersachsen eine Begründung des Urteils vorgenommen hat, die bisher so vom BAG nicht vorgenommen wurde.

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Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
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Portraitfoto von Kai Höppner, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg
Kai Höppner
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