Landesarbeitsgericht Köln vom 16.01.2025, Aktenzeichen 6 Sa 633/23
Arbeit umverteilt & verdichtet: Kündigung gerechtfertigt?
Vor dem LAG Köln standen eine behauptete Unternehmerentscheidung mit Arbeitsumverteilung und Leistungsverdichtung sowie der Einwand des „böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes“ im Annahmeverzug im Mittelpunkt.
In zweiter Instanz beleuchtet das LAG Köln (6 Sa 633/23) nicht nur die Anforderungen an ein tragfähiges unternehmerisches Konzept, sondern auch die Voraussetzungen für den Einwand aus § 615 Satz 2 BGB/§ 11 KSchG.
Zugleich bestätigt das Gericht die in der Praxis spürbar gestiegenen Anforderungen an die Darlegungslast von Arbeitgebern: Je enger die behauptete Organisationsmaßnahme mit der Entlassung einer Einzelperson verknüpft ist, desto konkreter müssen Konzept, Umsetzung und Belastbarkeit dargelegt werden.
Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht, Christian Wieneke-Spohler.

Christian Wieneke-Spohler
Datum
16.01.2025
Aktenzeichen
6 Sa 633/23
Gericht
Landesarbeitsgericht Köln
Einordnung
Betriebsbedingte Kündigung und Unternehmerentscheidung
Betriebsbedingte Kündigungen (§ 1 Abs. 2 KSchG) erfordern dringende betriebliche Erfordernisse. Beruft sich der Arbeitgeber – wie im vorliegenden Fall – auf eine innerbetriebliche Organisationsentscheidung (Arbeitsumverteilung in der betroffenen Abteilung, Leistungsverdichtung in anderen Bereichen), verlangt die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (u. a. 2 AZR 141/99, fortgeführt in 2 AZR 346/12) die Darlegung eines unternehmerischen Konzepts:
- Welche Aufgaben werden in welche Bereiche verlagert?
- Wie verändert sich das Arbeitsvolumen (vorher/nachher, idealerweise in Stunden)?
- Wie werden die verbleibenden Tätigkeiten ohne Überobligationsleistungen innerhalb der geschuldeten Arbeitszeit erledigt?
- Wie ist die Umsetzung geplant und dokumentiert (Zuständigkeiten, Weisungen, Übergaben, Schulungen, Kapazitätsprüfung der aufnehmenden Bereiche)?
Die Unternehmerentscheidung ist als solche zu respektieren; ihre tatsächliche Umsetzung unterliegt jedoch gerichtlicher Plausibilitäts- und Umsetzungskontrolle, insbesondere bei Einzelstellenabbau.
Je näher Organisations- und Kündigungsentscheidung zeitlich beieinander liegen, desto höher sind die Anforderungen an die Darlegungstiefe (Abgrenzung zwischen Willkürkontrolle und freier Unternehmerentscheidung, Art. 12 GG).
Zudem ist eine ordnungsgemäße Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG) vorzunehmen; weite Versetzungsklauseln vergrößern regelmäßig den Vergleichskreis und schließen eine bloße Abteilungsbetrachtung regelmäßig aus.
Annahmeverzug und Einwand „böswilliges Unterlassen“
Im Annahmeverzug bleibt nach § 615 BGB i. V. m. § 611a BGB der Vergütungsanspruch bestehen, wenn der Arbeitgeber die Arbeitsleistung zu Unrecht verweigert (§§ 293, 296 BGB).
Eine Anrechnung entfällt, sofern kein anderweitiger Verdienst erzielt wurde und der Arbeitnehmer nicht böswillig dessen Erwerb unterlassen hat (§ 615 Satz 2 BGB/§ 11 KSchG).
Die Prüfung der Böswilligkeit erfolgt anhand einer Gesamtabwägung (BAG, zuletzt 5 AZR 177/23): Berücksichtigt werden die Person des potenziellen Arbeitgebers, die Art der Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen, die Qualifikation, das Verhalten beider Parteien und ggf. sozialrechtliche Pflichten (§ 38 SGB III, § 2 SGB III).
Der Auskunftsanspruch des Arbeitgebers zu Vermittlungsvorschlägen und Bewerbungsbemühungen ergibt sich aus § 242 BGB (BAG 5 AZR 387/19).
Dabei trifft den Arbeitgeber für den Einwand aus § 615 Satz 2 BGB eine substantiierte Darlegungslast: Er muss konkret benennen, welche zumutbaren Tätigkeiten realistisch in Betracht kamen und weshalb deren Nichtannahme böswillig sein soll.
Prozessual gilt: Der Weiterbeschäftigungstitel nach erstinstanzlichem Obsiegen (BAG-Großer Senat, GS 1/84) beeinflusst die Abwägung, ohne den Einwand des böswilligen Unterlassens per se auszuschließen (u. a. 5 AZR 205/21).
Der Sachverhalt
Die Beklagte, ein großes Immobilienmaklerunternehmen, beschäftigte den Kläger – einen Fachinformatiker und onOffice-(„onO“-)Spezialisten – im CRM-Team (drei Vollzeitkräfte).
Mit Schreiben vom 22.11.2022 kündigte sie das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 28.02.2023. Begründet wurde die Kündigung mit einem Gesellschafterbeschluss vom 15.11.2022: Der 1st-Level-Support und Schulungen sollten vom CRM in das Partnermanagement/Coaching verlagert, verbleibende Restaufgaben von der IT abgedeckt werden; dadurch entfalle eine Stelle (angeblich ca. 30 % Minderbedarf).
Der Kläger hielt den Beschluss für nachträglich konstruiert und bestritt eine tatsächliche Umsetzung. Zudem rügte er die Sozialauswahl (weite Versetzungsklausel im Vertrag, Vergleichbarkeit mit IT-Mitarbeitenden).
Vor dem Arbeitsgericht Aachen (3 Ca 1217/23) obsiegte der Kläger. In der Berufung präzisierte die Beklagte die behaupteten Stundenanteile und verwies auf eine Restrukturierung; zugleich erhob sie Widerklage auf Auskünfte (Meldung bei der Agentur für Arbeit, erhaltene Vermittlungsvorschläge, Bewerbungen, Eigenbemühungen etc.) und berief sich im Hinblick auf den Annahmeverzugslohn auf „böswilliges Unterlassen“.
Der Kläger dokumentierte mehr als 30 Eigenbewerbungen (onO-Spezialist, Projekt, Consulting), mehrere Gespräche und Probetage, eine kurzfristige Anstellung von Juni bis August 2024 bei BÖC-Wohnimmobilien und seit 19.08.2024 bei Wüs Immobilien.
Die Auskünfte wurden anerkannt und eidesstattlich ergänzt. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung reichte die Beklagte noch einen nicht nachgelassenen Schriftsatz (03.01.2025) mit weiterem Konzeptvortrag ein; diese „Nachträge“ sah das Gericht nicht als ex-ante-Konzept, sondern als nachträgliches Verteidigungsvorbringen an.
Je enger der Nexus zwischen Unternehmerentscheidung und Kündigung, desto höher die Darlegungsanforderungen an Konzept und Umsetzung.
Urteil und Begründung
Kündigungsschutz
Die Berufung bleibt ohne Erfolg. Die Kündigung ist nach § 1 Abs. 1, 2 KSchG unwirksam:
- Kein tragfähiges unternehmerisches Konzept: Die Beklagte blieb konkrete, prognostische Angaben schuldig, wie die bisher vom Kläger erledigten Tätigkeiten in welche Bereiche mit welchem Stundenvolumen verlagert und ohne Mehrarbeit erledigt werden sollten. Allgemeine Schlagworte wie „Verschlankung“ und „Effizienz“ genügen nicht. Greifbare Umsetzungsmaßnahmen (Weisungen, Priorisierungen, Übergaben, Schulungen, Kapazitätsprüfung) wurden nicht belegt. Auch im Prozess nachgereichte Detailtabellen ersetzten kein im Vorfeld der Kündigung bestehendes, dokumentiertes Konzept.
- Fehlerhafte Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG): Aufgrund der weiten Versetzungsklausel durfte die Auswahl nicht auf die CRM-Abteilung beschränkt werden; die Beklagte legte keinen zutreffenden (unternehmensweiten) Vergleichskreis zugrunde. Pauschale Einwände gegen die Vergleichbarkeit – insbesondere mit IT-Mitarbeitenden – genügten nicht.
Weiterbeschäftigung
Der Titel aus erster Instanz bleibt nach den Grundsätzen des BAG-GS 1/84 bestehen; gegenläufige Interessen der Beklagten wurden nicht substantiiert.
Widerklage (Auskunft)
Aufgrund des Anerkenntnisses (§ 307 Satz 1 ZPO) waren den Auskunftsanträgen (Meldung, Leistungen, Vermittlungsvorschläge, Bewerbungen – einschließlich der von der Beklagten übersandten Angebote – sowie Eigenbemühungen) stattzugeben. Der Kläger hat die Auskünfte erteilt und an Eides statt versichert.
Ein geltend gemachtes Zurückbehaltungsrecht der Beklagten gegenüber der Vergütung scheidet nach Erfüllung aus.
Annahmeverzugslohn
Die Anschlussberufung des Klägers ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat für März 2023 bis März 2024 Entgelt zu zahlen (insgesamt 59.540 € brutto), abzüglich übergegangener ALG-Ansprüche (20.244 € netto) und Bürgergeld (928 €) sowie Zinsen (5 Prozentpunkte über dem Basiszins ab den jeweiligen Fälligkeiten).
- Kein anderweitiger Verdienst wurde substantiiert dargelegt.
- Kein böswilliges Unterlassen (§ 615 Satz 2 BGB/§ 11 KSchG)
In einer Gesamtabwägung verneint das Landesarbeitsgericht die Böswilligkeit. Für den hoch spezialisierten onO-Experten waren realistisch nur onO-nahe IT-, Projekt- oder Consulting-Tätigkeiten zumutbar; entsprechende Eigenbewerbungen (mehr als 30, teils mit Gesprächen und Probetagen) sprechen gegen Böswilligkeit.
Die Nichtbewerbung auf allgemeine Agenturvorschläge (etwa Systemadministration) war vorliegend nicht ausschlaggebend. Maßgeblich ist zudem die Darlegungslast der Arbeitgeberseite: Diese muss konkret zu zumutbaren Alternativen vortragen – dies gelang der Beklagten nicht.
Das prozessuale Verhalten der Beklagten (willkürliche Kündigung ohne Konzept, fehlerhafte Sozialauswahl, Behauptungen „ins Blaue hinein“, Missachtung des Weiterbeschäftigungstitels, widerrufene Vergleiche, Korrespondenz am Bevollmächtigten vorbei) wog zu ihren Lasten.
Unser Fazit
Für Arbeitgeber
Einzelstellenabbau durch Arbeitsumverteilung und Leistungsverdichtung bleibt möglich – jedoch ausschließlich mit frühzeitig dokumentiertem, zahlenbasiertem Konzept (Arbeitsvolumen vorher/nachher, Zuständigkeiten, Weisungen, Übergaben/Schulungen, Kapazitäten der aufnehmenden Bereiche) und korrekter Sozialauswahl unter Berücksichtigung von Versetzungsklauseln.
Nachträgliche „Prozess-Konzepte“ genügen nicht. Praxistipp: Frühzeitig arbeitsrechtlich beraten lassen und die Umsetzungsschritte fortlaufend, revisionsfest dokumentieren. Der Nichtvollzug eines Weiterbeschäftigungstitels verschlechtert die Abwägung beim Einwand „böswilliges Unterlassen“ erheblich.
Für Arbeitnehmer
Eine stringente Dokumentation der Bewerbungsbemühungen (auch erfolglose), eine profilgerechte Zielsuche und Transparenz zu Sozialleistungen und Aktivitäten sind die beste Verteidigung gegen den Einwand des § 615 Satz 2 BGB.
Für Betriebsräte
Eine frühzeitige Beteiligung bei Re-Organisationen sollte eingefordert werden; die Frage der Konzepttauglichkeit (Belastbarkeit der Aufnahmeabteilungen) gehört in die Diskussion.
Weiterführende Links
An dieser Stelle finden Sie das besprochene Urteil sowie weiterführende Links zu Rechtstexten.
Sie haben Fragen?
Unsere Fachanwälte stehen Ihnen mit langjähriger Erfahrung im Arbeitsrecht gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie uns!
- Nachweisbare Erfolge
- Erfahrung
- Stärke des Kanzlei-Teams
- Kostenbewusstsein