LAG Düsseldorf vom 23.02.2024, Aktenzeichen: 7 TaBV 67/23
Sexuelle Belästigung durch Betriebsratsmitglied mit langer Betriebszugehörigkeit
Wie weit reicht der besondere Kündigungsschutz eines Betriebsratsmitglieds, wenn diesem eine einmalige sexuelle Belästigung im Rahmen eines Firmenevents vorgeworfen wird? Das LAG Düsseldorf befasste sich mit genau dieser Frage (Az. 7 TaBV 67/23).
Im Zentrum stand der Versuch der Arbeitgeberin, die Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung eines Betriebsratsmitglieds ersetzen zu lassen – und hilfsweise dessen Ausschluss aus dem Gremium.
Die Entscheidung hat Signalwirkung für den Umgang mit sexueller Belästigung, das Erfordernis von Abmahnungen und die Abgrenzung zwischen arbeitsvertraglichen Pflichten und Amtspflichten eines Betriebsrats.
Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht, Christian Wieneke-Spohler.

Christian Wieneke-Spohler
Datum
23.02.2024
Aktenzeichen
7 TaBV 67/23
Gericht
LAG Düsseldorf
Einordnung
Zentral sind § 103 (2) BetrVG zum Zustimmungsersetzungsverfahren bei der Kündigung von Betriebsratsmitgliedern sowie § 626 (1) BGB zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund. Eine Zustimmungsersetzung durch das Arbeitsgericht setzt voraus, dass die beabsichtigte fristlose Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist. Maßgeblich ist somit eine zweistufige Prüfung: Erstens die „an sich“-Eignung als wichtiger Grund, zweitens die Interessenabwägung einschließlich der Prüfung milderer Mittel, insbesondere einer Abmahnung.
Für den Belästigungstatbestand ist § 3 (4) AGG maßgeblich: Unerwünschte, sexuell bestimmte Verhaltensweisen – auch einmalige – genügen, wenn sie die Würde verletzen. Arbeitgeber sind zudem nach § 12 (3) AGG verpflichtet, geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um künftige Belästigungen zu unterbinden. Welche Maßnahme verhältnismäßig ist, hängt vom Einzelfall ab.
Prozessual ist zu beachten: Anders als bei § 102 (2) Satz 2 BetrVG gibt es bei § 103 BetrVG keine Zustimmungsfiktion. Stimmt der Betriebsrat der beabsichtigten Kündigung nicht zu, muss der Arbeitgeber die fehlende Zustimmung durch das Arbeitsgericht ersetzen lassen. Formelle Beanstandungen des Beschlusses des Betriebsrats ändern daran nichts. Im Übrigen können Mängel durch einstimmige Beschlussfassung geheilt werden.
Für den Hilfsantrag auf Ausschluss aus dem Betriebsrat ist § 23 Absatz 1 BetrVG maßgeblich. Erforderlich ist eine grobe Verletzung amtlicher Pflichten. Nicht jedes Fehlverhalten eines Betriebsratsmitglieds in seiner Rolle als Arbeitnehmer ist zugleich eine Amtspflichtverletzung.
Schließlich spielt § 15 KSchG über den Sonderkündigungsschutz eine Rolle.
Ein Schlag auf das Gesäß stellt eine sexuelle Belästigung dar und ist ‚an sich‘ geeignet, einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden.
Der Sachverhalt
Die Arbeitgeberin betreibt einen Betrieb in Essen mit etwa 320 Beschäftigten. Der betroffene Mitarbeitende, geboren 1967, ist seit dem 1. April 2022 im Unternehmen tätig (mit anerkanntem Konzernbeginn am 1. Oktober 2000), als außertariflich Beschäftigter und seit Ende 2022 Mitglied des Betriebsrats.
Im Rahmen einer Firmenveranstaltung am 1. Februar 2023 kam es spätabends zu den streitigen Vorfällen: Nach der glaubhaften Schilderung einer Kollegin erhielt sie beim Vorbeigehen an der Bar einen kräftigen Schlag auf das Gesäß.
Sie konfrontierte den Betroffenen unmittelbar mit dem Hinweis, dass dies nicht in Ordnung sei, woraufhin er sich sinngemäß entschuldigte. Am Folgetag entschuldigte er sich nochmals per E-Mail (auf Englisch), führte aber zugleich Alkoholkonsum und Medikation als Ursache an.
Eine weitere Kollegin berichtete, er habe beim Tanzen geäußert, „wir können auch gerne woanders weiter tanzen“. Zeugenaussagen bestätigten im Wesentlichen die Wahrnehmungen, insbesondere eine Zeugin, die den Schlag gesehen haben will.
Der Betroffene selbst sprach von erheblicher Alkoholisierung, kombinierter Medikamenteneinnahme und Erinnerungslücken bezüglich des Schlages; die Bemerkung gegenüber der Kollegin sei nicht anzüglich gemeint gewesen.
Die Arbeitgeberin sah mindestens eine begründete Verdachtslage einer sexuellen Belästigung, beantragte am 2. März 2023 die Ersetzung der Zustimmung zur fristlosen Kündigung und hilfsweise den Ausschluss aus dem Betriebsrat.
Sie stützte dies unter anderem auf Uneinsichtigkeit, Wiederholungsgefahr und Störung des Betriebsfriedens. Der Betriebsrat verweigerte die Zustimmung, hielt eine Abmahnung für ausreichend und bestritt eine Amtspflichtverletzung.
Das Urteil
Das LAG Düsseldorf wies die Beschwerde der Arbeitgeberin zurück und bestätigte den Beschluss des ArbG Essen. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.
Keine Zustimmungsersetzung zur außerordentlichen Kündigung
Das Gericht unterstellte zugunsten der Arbeitgeberin, dass ein Schlag auf das Gesäß und die Bemerkung gegenüber der Kollegin erfolgten und diese als sexuelle Belästigungen im Sinne des § 3 Absatz 4 AGG zu qualifizieren sind. Solche Handlungen sind grundsätzlich geeignet, einen wichtigen Grund zu bilden. Gleichwohl scheitert die Kündigung an der Interessenabwägung:
- Der Betroffene zeigte tätige Reue durch unmittelbare und nachfolgende Entschuldigung.
- Es fehlen einschlägige Vorfälle in über 23 Jahren anerkannter Betriebszugehörigkeit; beide Ereignisse entstammen derselben Nacht unter unstreitiger Alkoholisierung.
- Eine Abmahnung stellt ein milderes, ausreichendes Mittel dar; eine Wiederholungsgefahr ist nicht ersichtlich, auch gemessen an § 12 Absatz 3 AGG.
- Es existiert kein absoluter Kündigungsgrund; selbst gravierendes Fehlverhalten kann abmahnungsbedürftig sein, wenn der Mitarbeitende mit einer Abmahnung noch rechnen durfte.
Der Hinweis der Arbeitgeberin auf eine mögliche Strafbarkeit nach § 184i StGB ändert kündigungsrechtlich nichts. Maßgeblich ist der Vertrauensbruch im Arbeitsverhältnis, nicht die strafrechtliche Bewertung.
Formelle Rügen zur Ordnungsmäßigkeit des Betriebsratsbeschlusses trugen ebenfalls nicht. Eine Zustimmungsfiktion gibt es in § 103 BetrVG nicht; etwaige Mängel wären hier zudem durch einstimmige Beschlussfassung geheilt.
Kein Ausschluss aus dem Betriebsrat
Unser Fazit
Das LAG Düsseldorf bestätigt eine strikte Einzelfallabwägung bei sexuellen Belästigungen. Der Tatbestand erfüllt zwar grundsätzlich die „an sich“-Eignung für eine fristlose Kündigung. Ohne Wiederholungsgefahr, bei sofortiger Reue und langjährig beanstandungsfreier Beschäftigung kann eine Abmahnung das rechtlich gebotene mildere Mittel sein.
Für Betriebsratsmitglieder gilt: Nicht jedes gravierende Fehlverhalten in der Arbeitnehmerrolle ist zugleich eine Amtspflichtverletzung – ein Ausschluss nach § 23 Absatz 1 BetrVG verlangt einen Bezug zur Amtsausübung.
Arbeitgeber sollten Maßnahmen nach § 12 Absatz 3 AGG differenziert wählen. Betriebsräte behalten ihre Sonderstellung, ohne dass dies eine doppelte Sanktionsschraube ohne Amtspflichtbezug rechtfertigt.
Weiterführende Links
An dieser Stelle finden Sie das besprochene Urteil sowie weiterführende Links zu Rechtstexten.
- Zum LAG-Urteil inklusive downloadbarer PDF
- § 2 BetrVG: Stellung der Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber
- § 23 BetrVG: Verletzung gesetzlicher Pflichten
- § 3 AGG: Begriffsbestimmungen
- § 12 AGG: Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers
- § 626 BGB: Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund
- § 184i: Sexuelle Belästigung StGB
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