Bundesarbeitsgericht (BAG) vom 03.04.2025, Aktenzeichen: 2 AZR 178/24

Präventionsverfahren für schwerbehinderte Arbeitnehmer in der Wartezeit?

Das Bundesarbeitsgericht hatte über einen Fall einer Wartezeitkündigung eines schwerbehinderten Mitarbeitenden zu entscheiden  (2 AZR 178/24).

Der Kläger war seit wenigen Monaten als Leitung für Haus- und Betriebstechnik beschäftigt und berief sich auf fehlende Schutzmaßnahmen des Arbeitgebers. Insbesondere wurde das unterlassene Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX beanstandet.

Die zentrale Verfahrensfrage lautete: Ist ein Präventionsverfahren bereits während der Wartezeit durch den Arbeitgeber durchzuführen?

Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht und Medizinrecht, Kai Höppner.

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Fachanwalt
Kai Höppner

Datum

03.04.2025

Aktenzeichen

2 AZR 178/24

Gericht

Bundesarbeitsgericht (BAG)

Einordnung

Im Mittelpunkt stand die Auslegung von § 167 Abs. 1 SGB IX, der ein Präventionsverfahren bei personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten vorsieht.

Nach ständiger Rechtsprechung ist diese Vorschrift eng mit dem Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) verknüpft. In der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) sowie in Kleinbetrieben (§ 23 Abs. 1 KSchG) findet das Präventionsverfahren keine Anwendung.

Ebenso wurden das Benachteiligungsverbot nach § 7 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 1, 3 AGG, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 242 BGB), das Maßregelungsverbot (§ 612a BGB) sowie Ansprüche aus § 164 Abs. 4 SGB IX für schwerbehinderte Mitarbeitende geprüft.

Unionsrechtliche Vorgaben aus der Richtlinie 2000/78/EG und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurden ergänzend herangezogen, insbesondere hinsichtlich der Frage angemessener Vorkehrungen.

§ 167 Abs. 1 SGB IX findet in der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG keine Anwendung – das Präventionsverfahren ist an den Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes gebunden.

Der Sachverhalt

Der Kläger, schwerbehindert und mit seiner Behinderung bei Einstellung bekannt, trat am 1. Januar 2023 die Stelle als Leitung für Haus- und Betriebstechnik an. Die Probezeit betrug sechs Monate.

Im März 2023 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 15. April 2023. Ein Betriebsrat oder eine Schwerbehindertenvertretung bestand nicht.

Der Kläger hielt die Kündigung für diskriminierend und treuwidrig. Er argumentierte, die Beklagte habe kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX eingeleitet und keinen behinderungsgerechten Arbeitsplatz angeboten.

Die Beklagte entgegnete, der Kläger sei fachlich ungeeignet gewesen und es habe keinen freien Alternativarbeitsplatz gegeben.

BAG-Urteil und Begründung

Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision ab. Die wesentlichen Begründungspunkte lauteten:

Keine Pflicht zum Präventionsverfahren in der Wartezeit

§ 167 Abs. 1 SGB IX kommt nur zur Anwendung, wenn das Kündigungsschutzgesetz anwendbar ist. In der Wartezeit besteht keine Verpflichtung zur Durchführung eines Präventionsverfahrens.

Keine Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz

Die Kündigung beruhte ausschließlich auf mangelnder fachlicher Eignung und stand in keinem Zusammenhang mit der Schwerbehinderung.

Kein Anspruch aus § 242 BGB oder § 612a BGB

Es fehlte ein Bezug zwischen Kündigung und Behinderung oder einer zulässigen Rechtsausübung des Klägers, die zu einer unzulässigen Maßregelung geführt hätte.

Ansprüche aus § 164 Abs. 4 SGB IX

Ansprüche aus § 164 Abs. 4 SGB IX bestehen zwar unabhängig von der Wartezeit oder der Betriebsgröße, setzen jedoch voraus, dass freie und geeignete Arbeitsplätze konkret dargelegt werden. Dies hatte der Kläger nicht erbracht.

Das Gericht stellte klar, dass angemessene Vorkehrungen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention oder der EU-Richtlinie nur dann relevant sind, wenn die Kündigung einen Bezug zur Behinderung aufweist. Da dies nicht der Fall war, war die Kündigung wirksam.

Ansprüche auf behinderungsgerechte Beschäftigung bestehen auch in der Wartezeit, doch müssen Arbeitnehmer konkrete, geeignete Alternativen benennen.

Unser Fazit

Das Urteil verdeutlicht, dass schwerbehinderte Mitarbeitende in der Wartezeit keinen Anspruch auf Durchführung eines Präventionsverfahrens haben. Arbeitgeber sind dennoch verpflichtet, behindertengerechte Beschäftigungsmöglichkeiten zu prüfen, sofern ein Bezug zur Behinderung besteht.

Mitarbeitende müssen jedoch konkret darlegen, welche Vorkehrungen oder alternativen Arbeitsplätze in Betracht kommen. Das Urteil schafft Klarheit für alle Beteiligten und unterstreicht die Bedeutung einer transparenten Prüfung im Einzelfall.

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Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
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