Arbeitsgericht Gelsenkirchen vom 22.10.2024, Aktenzeichen 1 Ca 807/24
Austauschkündigung oder Beschäftigungswegfall?
Ein interessanter Fall im Kontext von betriebsbedingter Kündigung, Betriebsrat-Beteiligung und der unternehmerischen Freiheit bei der Fremdvergabe von Tätigkeiten.
Die Urteilsbesprechung übernimmt Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht in unserer Hamburger Kanzlei für Arbeitsrecht.

Christian Wieneke-Spohler
Datum
22.10.2024
Aktenzeichen
1 Ca 807/24
Gericht
Arbeitsgericht Gelsenkirchen
Einordnung
Der Fall bewegt sich im Spannungsfeld der Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) und des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Gemäß § 1 Abs. 2 KSchG muss eine betriebsbedingte Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse gerechtfertigt sein, die eine Weiterbeschäftigung im Betrieb unmöglich machen. Hinzu kommt die Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG, da eine unzureichende Information des Betriebsrats zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.
Wird eine Fremdvergabe als Grund angeführt, muss der Arbeitgeber substantiiert darlegen, dass die Aufgaben des gekündigten Arbeitnehmers ohne Eingliederung in die betriebliche Organisation und ohne Weisungsabhängigkeit an einen Dritten übertragen werden. Dieser Grundsatz dient der Missbrauchskontrolle und der Vermeidung von Austauschkündigungen.
Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigungswegfall nicht substantiiert nachweist.
Der Sachverhalt
Ein leitender Physiotherapeut eines Fußballvereins wurde betriebsbedingt gekündigt, da die physiotherapeutischen Aufgaben der Lizenz-Mannschaft an eine externe Arztpraxis vergeben wurden.
Der Kläger argumentierte, dass die Fremdvergabe eine Scheinmaßnahme darstelle und die Kündigung somit sozial ungerechtfertigt sei. Zudem beanstandete er die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats und machte geltend, dass vergleichbare Arbeitnehmer im Nachwuchsbereich existierten, die sozial weniger schutzwürdig seien.
Der Verein hielt dagegen, dass die Fremdvergabe auf einer unternehmerischen Entscheidung basiere, die zum dauerhaften Wegfall des Beschäftigungsbedarfs geführt habe.
Hierbei berief sich der Sportverein insbesondere auf die vertraglichen Regelungen mit der Arztpraxis „Orthopädie.D“, nach denen die externen Physiotherapeuten sowohl für die Lizenzspielermannschaft als auch für trainings- und spieltätigkeitsnahe Aufgaben zuständig sein sollten.
Das Urteil
Das Gericht erklärte die Kündigung für unwirksam. Es stellte fest, dass die unternehmerische Entscheidung zur Fremdvergabe der Physiotherapie nicht hinreichend substantiiert dargelegt wurde.
Weder die Weisungsunabhängigkeit der beauftragten Arztpraxis noch die organisatorische Umsetzung der Aufgabenübertragung konnte überzeugend nachgewiesen werden. Speziell die umfangreichen Weisungsrechte im Dienstleistungsvertrag sprachen gegen eine echte Fremdvergabe.
Weiterhin rügte das Gericht die unvollständige Anhörung des Betriebsrats, da wesentliche Informationen zur Fremdvergabe fehlten. Die Weiterbeschäftigung des Klägers wurde nach § 102 Abs. 5 BetrVG angeordnet, da der Betriebsrat der Kündigung widersprochen und der Kläger fristgerecht Klage erhoben hatte.
Das Gericht betonte, dass eine Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigungswegfall nicht substantiiert nachweist und die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats missachtet.
Unser Fazit
Das Urteil verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Darlegung betriebsbedingter Kündigungsgründe, insbesondere bei Fremdvergaben.
Für Arbeitgeber ist es entscheidend, die organisatorische und rechtliche Selbstständigkeit des Dritten nachvollziehbar zu machen. Arbeitnehmer und Betriebsräte profitieren von der Verpflichtung des Arbeitgebers zu umfassender Transparenz bei der Betriebsratsanhörung.
Das Urteil zeigt, dass eine genaue Prüfung und Dokumentation der unternehmerischen Entscheidungen sowie eine vollständige und korrekte Anhörung des Betriebsrats zwingend sind.
Weiterführende Links
An dieser Stelle finden Sie das besprochene Urteil sowie weiterführende Links zu Rechtstexten.
- Arbeitsgericht Gelsenkirchen vom 22.10.2024, Aktenzeichen 1 Ca 807/24
- § 1 Abs. 2 S. 1, S. 4 KSchG – Soziale Rechtfertigung betriebsbedingter Kündigungen
- § 4 KSchG – Klagefrist bei Kündigungsschutzklagen
- § 23 KSchG – Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes
- § 102 BetrVG – Betriebsratsanhörung und Weiterbeschäftigungsanspruch
- Art. 12, Art. 14 GG – Berufsfreiheit und Eigentumsschutz
- § 307 BGB – Inhaltskontrolle bei Ausschlussfristen
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