LAG Niedersachsen vom 08.07.2024, Aktenzeichen 15 SLa 127/24

Kündigung wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit

Das LAG Niedersachsen entschied in einem aktuellen Urteil (15 SLa 127/24) den Fall einer außerordentlichen Kündigung einer Grundschulsekretärin. Der Kündigungsgrund: eine möglicherweise vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit. 

Die Fall- und Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht Christian Wieneke-Spohler.

Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt
Christian Wieneke-Spohler

Datum

08.07.2024

Aktenzeichen

15 SLa 127/24

Gericht

Landesarbeitsgericht Niedersachsen

Einordnung

Immer wieder kommt es vor, dass sich Arbeitnehmer dazu verleiten lassen, nicht genehmigten Urlaub durch Vortäuschung einer Krankheit zu umgehen. Ein gefährliches, möglicherweise strafbares Spiel, das zumindest den Bestand des Arbeitsverhältnisses riskiert. Diese Erfahrung musste die Klägerin, Sekretärin einer Grundschule, in dem vom LAG Niedersachsen mit Urteil vom 08.07.2024 entschiedenen Fall machen.

Die sekundäre Darlegungslast trifft den Arbeitnehmer insbesondere dann, wenn objektive Tatsachen bestehen, die Zweifel an der Authentizität der attestierten Arbeitsunfähigkeit begründen

Der Sachverhalt

Am 05.07.2023 teilte die Klägerin ihrer Schulleiterin telefonisch mit, es gehe ihr wegen einer Magen–Darm–Grippe nicht gut. Für die Zeit vom 05.07.2023 bis zum 07.07.2023 legte die Klägerin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Ärztin vor, wonach die Arbeitsunfähigkeit am 05.07.2023 festgestellt worden war. Trotz der attestierten Arbeitsunfähigkeit nahm die Klägerin am 06.07.2023 an einem Trainer–Lizenz–Lehrgang bei der Landesturnschule teil.

Mit Schreiben vom 07.07.2023 hörte die Beklagte die Klägerin wegen des Verdachts der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit an.

Die Klägerin teilte mit, sie habe von Dienstag auf Mittwoch (05.07.2023) starke Bauchschmerzen und Übelkeit gehabt, das Schlucken habe wehgetan und sie habe unter Kopfschmerzen gelitten. Nach Einnahme der verschriebenen Medikamente habe sich ihr Gesundheitszustand umgehend gebessert. Sie gehe davon aus, dass die Symptome teilweise psychosomatisch waren. Da sie sich am 06.07.2023 besser gefühlt habe, habe sie an dem Lehrgang teilgenommen.

Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis fristlos nach § 626 Abs. 1 BGB. Die Klägerin unterlag mit ihrer Kündigungsschutzklage in beiden Instanzen.

Das Urteil

Erste Instanz (Arbeitsgericht Osnabrück)

Es habe ein dringender, auf objektive Tatsachen gestützter Verdacht bestanden, dass die Klägerin die ab dem 05.07.2023 attestierte Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht habe. Sie habe weder im Rahmen ihrer Anhörung noch im Verfahren entgegenstehende plausible Umstände aufgezeigt.

Es genüge nicht, pauschal auf eine ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu verweisen. Es hätte konkret vorgetragen werden müssen, welche Krankheiten im einzelnen bestanden und zu welchen gesundheitlichen Einschränkungen sie geführt hätten, welche Verhaltensmaßregelungen der Arzt gegeben habe und welche Medikamente bewirkt hätten, dass die Klägerin zwar nicht die geschuldete Arbeit verrichten, aber den Trainerlehrgang wahrnehmen konnte.

Berufung (LAG Niedersachsen)

Das LAG Niedersachsen als Berufungsgericht stützte diese Entscheidung und ergänzte sie um grundsätzliche Ausführungen zur Erschütterung der Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung:

Normalerweise sei der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erbracht. Deren hoher Beweiswert folge aus der gesetzgeberischen Wertentscheidung (§§ 5, 7 Entgeltfortzahlungsgesetz).

Bezweifle der Arbeitgeber den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, bestreite also eine sog. negative Tatsache (hier: Nichtvorliegen einer Krankheit), kämen die Grundsätze der abgestuften Darlegungslast zur Anwendung.

An die Beweisführung richten sich in dieser Fall nach Auffassung des LAG besondere Anforderungen:

Ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber reiche nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen habe. Vielmehr könne der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlege und im Bestreitensfall beweise, die begründeten Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergäben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein offenkundiger Beweiswert mehr zukomme.

Derartige tatsächliche Umstände sah das LAG zunächst darin, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für einen Zeitraum ausgestellt worden war, für die die Klägerin zuvor Urlaub begehrt hatte. Zudem habe sie entsprechend ihrer ursprünglichen Planung an dem Lehrgang teilgenommen. Die Klägerin habe sich im Vorfeld zu dem Lehrgang angemeldet und trotz der Verweigerung des Urlaubs für diesen Tag nicht wieder abgemeldet.

Bei dieser Sachlage, so das LAG, werde der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert.

In einem solchen Fall obliege dem Arbeitnehmer eine sekundäre Beweislast.

Diese habe zur Folge, dass einfaches Bestreiten und der bloße Verweis auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht genügen. Den Arbeitnehmer treffe dann eine weitergehende Substantiierungspflicht und die behandelnden Ärzte müssten von ihrer Schweigepflicht entbunden werden.

Dieser sekundären Beweislast, so das LAG, sei die Klägerin nicht nachgekommen. Es fehle an überzeugendem Vortrag zu den Ursachen der Erkrankung sowie zu Art und Umfang der Medikamentierung als Grundlage für den Rückschluss auf das tatsächliche Vorliegen einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung.

Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist kein unumstößliches Beweismittel, wenn das Verhalten des Arbeitnehmers berechtigte Zweifel aufwirft und substantiiert entkräftet werden kann.

Hinweis

Eine vorherige Abmahnung hielt das LAG angesichts der Schwere der Verfehlung der Klägerin nicht für erforderlich, zumal sie sich auch wegen Betrugs strafbar gemacht habe, indem sie für die Zeit der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung in Anspruch genommen habe. Die Klägerin hätte ihren Wunsch nach Aufhebung der Urlaubssperre, zumindest für die Dauer des Lehrgangs, im Wege einer einstweiligen Verfügung bei Gericht geltend machen müssen.

Sie haben Fragen?

Unsere Fachanwälte stehen Ihnen mit langjähriger Erfahrung im Arbeitsrecht gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie uns!

Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Christian Wieneke-Spohler
Portraitfoto von Kai Höppner, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg
Kai Höppner
Portrait von Christian Wieneke-Spohler, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Christian Wieneke-Spohler
Portraitfoto von Kai Höppner, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg
Kai Höppner