BAG-Urteil vom 16.04.2024: Aktenzeichen 9 AZR 165/23
Urlaubsanspruch: Kündigung, Mutterschutz & Elternzeit
Das Bundesverfassungsgericht musste die Frage klären, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitgeber den Urlaubsanspruch einer Arbeitnehmerin kürzen kann, wenn diese sich in Elternzeit befindet und anschließend das Arbeitsverhältnis beendet wird.
Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht und Medizinrecht Kai Höppner.
Datum
16.04.2024
Aktenzeichen
9 AZR 165/23
Gericht
Bundesarbeitsgericht (BAG)
Einordnung
Der vorliegende Fall beschäftigt sich mit Urlaubsabgeltungsansprüchen einer Arbeitnehmerin, die während der Mutterschutzzeiten und anschließender Elternzeit ihren Urlaub nicht in Anspruch nehmen konnte. Dabei kommen mehrere rechtliche Normen zum Tragen:
- Bundesurlaubsgesetz (BUrlG): Hier sind insbesondere die Regelungen in § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG relevant, die den Verfall von Urlaubsansprüchen und die Urlaubsabgeltung regeln. § 7 Abs. 3 BUrlG sieht vor, dass Urlaub grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr genommen werden muss, es sei denn, betriebliche oder persönliche Gründe des Arbeitnehmers verhindern dies. Dann darf der Urlaub auf das folgende Jahr übertragen werden. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG der noch offene Urlaub abgegolten.
- Mutterschutzgesetz (MuSchG): § 24 Satz 1 MuSchG stellt klar, dass Zeiten des Beschäftigungsverbots während der Mutterschutzfristen für die Berechnung des Erholungsurlaubs als Beschäftigungszeiten gelten. Dies verhindert, dass Urlaubsansprüche während der Mutterschutzzeiten verfallen oder gekürzt werden.
- Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG): Nach § 17 Abs. 1 BEEG kann der Arbeitgeber den Urlaub des Arbeitnehmers für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel kürzen, wenn dies rechtzeitig erklärt wird. Allerdings dürfen nach § 17 Abs. 2 BEEG noch bestehende Urlaubsansprüche nicht verfallen, sondern müssen im laufenden oder folgenden Urlaubsjahr nach der Elternzeit gewährt werden.
- Unionsrechtliche Vorgaben: Der Fall steht auch im Kontext der Richtlinie 2003/88/EG, die das Recht auf Jahresurlaub und dessen Abgeltung im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses regelt. Diese europarechtliche Vorgabe sieht vor, dass Urlaubsansprüche nicht verfallen dürfen, wenn der Arbeitnehmer aufgrund von Mutterschutz oder Elternzeit keinen Urlaub nehmen konnte.
Das Kürzungsrecht des Arbeitgebers setzt voraus, dass der Anspruch auf Erholungsurlaub bei Zugang der Kürzungserklärung noch besteht. Es kann nicht mehr ausgeübt werden, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist und der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaubsabgeltung hat.
Der Sachverhalt
Die Klägerin, die von 2009 bis 2020 als Therapeutin bei der Beklagten beschäftigt war, befand sich seit August 2015 aufgrund von Mutterschutz und anschließender Elternzeit nicht mehr in der Lage, ihren vertraglichen Urlaubsanspruch von 29 Arbeitstagen pro Jahr in Anspruch zu nehmen. Zum Zeitpunkt des Eintritts in den Mutterschutz im August 2015 hatte sie noch einen Urlaubstag für das laufende Jahr übrig. Anschließend befand sie sich bis November 2020 ununterbrochen in Mutterschutz und Elternzeit, da sie während dieser Zeit zwei Kinder gebar.
Die Klägerin kündigte ihr Arbeitsverhältnis im Juli 2020 zum Ende der Elternzeit im November 2020. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Beklagte nicht von ihrem Recht Gebrauch gemacht, den auf die Elternzeit entfallenden Urlaub zu kürzen.
Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin die Abgeltung von insgesamt 146 Urlaubstagen, die sich aus dem Resturlaub für 2015 sowie den vollen Urlaubsansprüchen für die Jahre 2016 bis 2020 zusammensetzten.
Die Beklagte verweigerte die Zahlung mit dem Argument, sie hätte das Recht, den Urlaub nachträglich gemäß § 17 Abs. 1 BEEG zu kürzen. Zudem sei im Referenzzeitraum kein Entgelt gezahlt worden, sodass auch keine Abgeltungspflicht bestünde. Weiterhin berief sich die Beklagte auf eine Verjährung der Urlaubsansprüche aus den Jahren 2015 bis 2017.
Das Urteil
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) wies die Revision der Beklagten zurück und bestätigte die Urteile der Vorinstanzen, die der Klägerin die Abgeltung ihrer Urlaubsansprüche zugesprochen hatten.
- Urlaubsansprüche während Mutterschutz und Elternzeit: Das BAG stellte fest, dass die Klägerin während der Mutterschutzzeiten und Elternzeit Urlaubsansprüche erwarb. Für die Mutterschutzfristen ergibt sich dies aus § 24 MuSchG, der bestimmt, dass diese Zeiten für die Berechnung des Erholungsurlaubs als Beschäftigungszeiten gelten. Auch während der Elternzeit entstehen Urlaubsansprüche gemäß § 17 BEEG. Das Kürzungsrecht des Arbeitgebers aus § 17 Abs. 1 BEEG setzt jedoch eine rechtzeitige Kürzungserklärung voraus. Da die Beklagte dies unterlassen hatte, standen der Klägerin bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch alle Urlaubsansprüche zu.
- Kürzung des Urlaubs nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses: Das Gericht stellte klar, dass nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses kein Kürzungsrecht mehr besteht. Die Beklagte hätte während des laufenden Arbeitsverhältnisses von ihrem Recht Gebrauch machen müssen, den Urlaub zu kürzen. Eine nachträgliche Kürzung nach der Beendigung ist unzulässig.
- Verjährung der Urlaubsansprüche: Das BAG entschied zudem, dass die Urlaubsansprüche nicht verjährt waren. Da die Klägerin sich seit August 2015 durchgängig in Mutterschutz und Elternzeit befand, konnte die Verjährungsfrist für die Urlaubsansprüche aus den Jahren 2015 bis 2017 nicht beginnen, da Urlaubsansprüche während dieser Schutzfristen nicht verfallen können (§ 17 Abs. 2 BEEG, § 24 MuSchG).
- Berechnung der Urlaubsabgeltung: Die Höhe der Urlaubsabgeltung wurde gemäß § 11 Abs. 1 BUrlG auf Grundlage des durchschnittlichen Arbeitsverdienstes der letzten 13 Wochen vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses berechnet. Die Tatsache, dass die Klägerin in den letzten 13 Wochen aufgrund der Elternzeit kein Entgelt erhalten hatte, führte nicht zur Kürzung des Abgeltungsanspruchs. Der Arbeitsausfall während der Elternzeit ist als unverschuldete Arbeitsversäumnis zu betrachten, die den Abgeltungsanspruch nicht mindert (§ 11 Abs. 1 Satz 3 BUrlG).
Die Inanspruchnahme von Elternzeit führt nicht zu einer verschuldeten Arbeitsversäumnis.
Unser Fazit
Das Urteil des BAG stärkt die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die während Mutterschutz- und Elternzeiten Urlaubsansprüche erwerben. Es stellt klar, dass der Arbeitgeber während des Arbeitsverhältnisses aktiv eine Kürzung der Urlaubsansprüche vornehmen muss. Unterbleibt diese Kürzung, so verbleiben die Urlaubsansprüche und können nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Form der Urlaubsabgeltung geltend gemacht werden.
Zudem verhindert die Regelung des BEEG und MuSchG den Verfall und die Verjährung von Urlaubsansprüchen während dieser Schutzfristen, was den Arbeitnehmer in einer besonderen Schutzposition belässt.
Weiterführende Links
An dieser Stelle finden Sie das besprochene Urteil sowie weiterführende Links zu Rechtstexten.
- BAG-Urteil vom 16.04.2024: Aktenzeichen 9 AZR 165/23
- § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG: Verfall und Abgeltung des Urlaubs
- § 11 Abs. 1 BUrlG: Berechnung des Urlaubsentgelts
- § 17 Abs. 1 und 3 BEEG: Kürzung des Urlaubs während der Elternzeit
- § 24 Satz 1 und 2 MuSchG: Urlaubsansprüche während der Mutterschutzzeiten
- § 17 Abs. 1 und 3 BEEG: Kürzung des Urlaubs während der Elternzeit
- Art. 7 Richtlinie 2003/88/EG: Unionsrechtlicher Anspruch auf Jahresurlaub
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