BAG-Urteil vom 18.09.2024, Aktenzeichen 5 AZR 29/24
Beweiswert ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Unter welchen Voraussetzungen kann ein Arbeitgeber die Echtheit einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit anzweifeln? Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilte unter dem Aktenzeichen 5 AZR 29/24 über die Echtheit bei zeitlicher Koinzidenz zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeit.
Die Urteilsbesprechung übernimmt unser Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht und Medizinrecht, Kai Höppner.

Kai Höppner
Datum
18.09.2024
Aktenzeichen
5 AZR 29/24
Gericht
Bundesarbeitsgericht
Einordnung
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) haben Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für bis zu sechs Wochen, sofern die Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit verursacht ist und kein eigenes Verschulden vorliegt. Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.
Ein zentrales Beweismittel ist die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (§ 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG), deren Beweiswert grundsätzlich hoch ist. Allerdings kann der Arbeitgeber diesen Beweiswert erschüttern, wenn ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit bestehen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (u. a. BAG 8. September 2021 – 5 AZR 149/21) kann dies primär dann der Fall sein, wenn die Krankschreibung exakt mit der Kündigungsfrist übereinstimmt oder widersprüchliche Umstände vorliegen, die auf eine missbräuchliche Nutzung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hindeuten.
Eine Besonderheit im vorliegenden Fall war die Tatsache, dass der Arbeitnehmer nach Ende der Kündigungsfrist unmittelbar eine neue Beschäftigung aufgenommen hat. Nach der bisherigen BAG-Rechtsprechung kann dies ein Indiz für eine vorgeschobene Arbeitsunfähigkeit sein, erfordert jedoch eine einzelfallbezogene Würdigung.
Der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann durch eine auffällige zeitliche Koinzidenz mit der Kündigungsfrist erschüttert werden.
Der Sachverhalt
Der Kläger war seit Januar 2020 als Dozent bei der Beklagten beschäftigt. Ende April 2022 kündigte er sein Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022 und reichte am selben Tag seine Kündigung ein. Direkt im Anschluss, am Montag, den 2. Mai 2022, ließ er sich von seiner Hausärztin arbeitsunfähig schreiben – zunächst bis zum 13. Mai 2022, später mit einer Folgebescheinigung bis zum 31. Mai 2022.
Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung und führte an, dass die Krankschreibung aufgrund der zeitlichen Koinzidenz zur Kündigungsfrist zweifelhaft sei. Zudem behauptete sie, der Kläger habe während seiner Arbeitsunfähigkeit versucht, Kunden für einen neuen Arbeitgeber abzuwerben. Die Beklagte berief sich auf die eingerichtete Rufumleitung, die darauf hindeute, dass der Kläger weiterhin dienstliche Anrufe entgegengenommen habe. Außerdem sei auffällig, dass eine weitere Mitarbeiterin, die ebenfalls kündigte, parallel erkrankt gewesen sei.
Das Arbeitsgericht gab der Klage des Arbeitnehmers zunächst statt. Auch das Landesarbeitsgericht bestätigte diese Entscheidung und sah den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht als erschüttert an. Dagegen legte die Beklagte Revision beim Bundesarbeitsgericht ein.
Das Urteil
Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung zurück. Es stellte fest, dass die Beklagte den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch die vorgelegten Indizien erschüttert hatte.
Entscheidend war die genaue zeitliche Übereinstimmung zwischen der Kündigungsfrist und der Krankschreibung. Der Kläger meldete sich unmittelbar nach der Kündigung krank und blieb genau bis zum letzten Tag der Kündigungsfrist arbeitsunfähig, bevor er am nächsten Tag eine neue Tätigkeit aufnahm. Dies begründet ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit.
Zudem sah das Gericht Widersprüche zwischen der Begründung des Klägers und dem ärztlichen Attest. Während der Kläger angab, dass eine Drohung seiner Vorgesetzten ihn akut krank gemacht habe, erklärte die Hausärztin, dass der Kläger bereits seit Wochen unter Erschöpfungssymptomen gelitten habe.
Weiterhin wurde das Verhalten des Klägers während der angeblichen Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt. Die Beklagte hatte dargelegt, dass er weiterhin Kundenkontakt pflegte, Telefongespräche führte und Kunden über seine künftige Tätigkeit informierte. Dies widerspreche dem Krankheitsbild und könne den Beweiswert der Bescheinigung weiter erschüttern.
Da das Landesarbeitsgericht diese Aspekte nicht ausreichend gewürdigt hatte, wurde der Fall zur erneuten Prüfung zurückverwiesen. Im weiteren Verfahren muss der Kläger nun konkrete Beweise für seine tatsächliche Erkrankung vorlegen.
Ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen vorwiegend dann, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach der Kündigung arbeitsunfähig wird und exakt bis zum Ende der Kündigungsfrist bleibt.
Unser Fazit
Das Urteil betont, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zwar ein starkes Beweismittel für eine Krankheit ist, aber nicht unwiderlegbar. Arbeitgeber können den Beweiswert erschüttern, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, insbesondere wenn eine Krankschreibung passgenau mit der Kündigungsfrist übereinstimmt.
Für Arbeitnehmer bedeutet dies, dass sie bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit in der Kündigungsfrist mit erhöhtem Misstrauen rechnen müssen. Arbeitgeber können eine detailliertere Prüfung verlangen, wenn berechtigte Zweifel bestehen.
Weiterführende Links
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